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  • AutorenbildThomas Laggner

Die gesprächspsychotherapeutische Entwicklungstheorie

Wie entwickelt sich eine psychische Störung?

In der Theorie wird davon ausgegangen, dass sich psychische Störungen entwickeln, wenn bestimmte Erfahrungen, die wiederum mit bestimmten Gefühlen verbunden sind, nicht oder nicht vollständig oder nur verzerrt gemacht werden: Gesprächspsychotherapeuten sprechen von Inkongruenz, wenn die Erfahrungen nicht angemessen im reflexiven Bewusstsein symbolisiert sind, und zwar weil diese Erfahrungen unvereinbar mit dem Selbstkonzept sind und „abgewehrt“, d. h., im Bewusstsein „verleugnet“ oder „verzerrt“ werden. Der Vorgang der »Abwehr« bestimmter Gefühle und Erfahrungen ist in der Regel nicht bewusst, wird aber häufig gespürt in einer diffusen, scheinbar unbegründeten Anspannung oder Angst, deren Herkunft und Sinn den Betroffenen verschlossen bleibt. Die gesprächspsychotherapeutische Entwicklungstheorie geht heute davon aus, dass nur Erfahrungen und die mit ihnen verknüpften Bewertungen bzw. Gefühle Bestandteil des Selbst bzw. des Selbstkonzepts werden können, die von den wichtigen Bezugspersonen als Erfahrungen und Gefühle des Kindes empathisch erkannt und bedingungsfrei emotional positiv als Erfahrungen des Kindes aufgenommen werden.

Als Beispiel wird folgender Fall beschrieben: Ein Kind, dessen Mutter – aus welchen Gründen auch immer – es nicht aushält, wenn ihr Kind Wutanfälle bekommt und diese z. B. bestraft, wird seine emotionale Erfahrung – »es macht mich wütend, wenn...« – nicht in sein Selbst integrieren können. Ist das Kind später Patient, wird er z. B. dem Therapeuten erzählen, dass er Angst davor hat, Wut zu spüren, denn Wütendsein sei für ihn gleichbedeutend mit einem Bösesein, das bestraft werden müsse. Rogers hat vor allem die Erfahrungen als Kind und die daraus entwickelten eigenen Bewertungsmaßstäbe, wie man gerne wäre (Selbstideal) oder wie man sein und erleben sollte, als entscheidenden Faktor betont. Die Entstehung von psychischen Störungen mit der Folge einer seelischen Erkrankung ist in der Regel viel komplexer als hier dargestellt werden kann. Im therapeutischen Prozess soll es dem Patienten zunehmend möglich sein, bisher nicht oder nur unvollständig zugelassene emotionale Erfahrungen als seine Erfahrungen zu erkennen, die zu seinem Selbst gehören. Dazu ist es notwendig, diese auch zu symbolisieren. Das wird möglich, wenn sich zwischen dem Therapeuten und dem Patienten eine Beziehung entwickelt, die auf Seiten des Therapeuten gekennzeichnet ist durch Empathie, Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung der Erfahrungen des Patienten und wenn der Patient dieses Beziehungsangebot des Therapeuten auch so wahr- und annehmen kann. Rogers betont weniger die Interaktion der sog. Instanzen (Ich, Über-Ich und Es) im Erleben und mehr die Entwicklung des Selbst bzw. Selbstkonzepts und dessen Einfluss auf die Erfahrung. Er geht von einem dem Menschen innewohnenden Potential zur eigenen Entwicklung (= Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierungstendenz) aus und relativiert damit die triebtheoretischen Annahmen Freuds (psychoanalytische Triebtheorie). Er sieht in der Aktualisierungstendenz die maßgebliche Entwicklungskraft der Persönlichkeit und relativiert damit auch die Bedeutung von – außen angeleiteten – Lernprozessen (S-R-Modell. → Lerntheorie), die im Behaviorismus als maßgebliche Entwicklungsfaktoren angesehen werden. Rogers’ persönlichkeits- und entwicklungstheoretische Grundannahmen werden durch später entwickelte psychologische Theorien gestützt und ergänzt. Das gilt z. B. sowohl für die Erkenntnisse der Bindungstheorie[18] als auch für die der Systemtheorie.[19] Die von Rogers auf empirischer Grundlage entwickelte therapietheoretische These, dass der Erfolg einer Psychotherapie im Wesentlichen von einer bestimmten Qualität der therapeutischen Beziehung abhängt, wurde von der empirischen Psychotherapieforschung immer und immer wieder bestätigt und gilt inzwischen als allgemein anerkannte Lehrmeinung.

DIE PSYCHOTHERAPIE-THEORIE Die Psychotherapie-Theorie ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: einer wissenschaftlich überprüften Aussage über wirkungsvolles Eingehen von Psychotherapeuten und Beratern auf ihre Klienten (die sechs notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur psychologischen Veränderung) und die Grundannahmen über die Natur des Menschen („Aktualisierungstendenz“ sowie „Bedürfnis nach bedingungsloser positiver Wertschätzung“). Damit eine psychologisch relevante Veränderung des Selbstkonzepts einer Person stattfinden kann, müssen vom Therapeuten die drei Grundhaltungen in der Beziehung zum Klienten gelebt werden:

  • Bedingungslose positive Wertschätzunggegenüber der Person des Ratsuchenden mit ihren Schwierigkeiten und Eigenheiten. Das Bedürfnis nach bedingungsloser positiver Wertschätzung gehört auch zu den personzentrierten Grundannahmen über die Natur des Menschen. Die bedingungslose positive Wertschätzung gegenüber dem Klienten kann verschiedene konkrete Interaktionsformen annehmen. So gehört das vorbehaltslose Annehmen des vom Klienten Ausgedrückten dazu, das Ermutigen der ratsuchenden oder leidenden Person ist ebenso eine Grundform des bedingungslosen Wertschätzens wie das Ausdrücken von Solidarität mit dem Klienten (J. Finke, 2004).

  • Empathie: Einfühlsames Verstehen der Welt und der Probleme aus der Sicht des Klienten, und die Fähigkeit, diese Empathie dem Klienten zu kommunizieren. Bei der Empathie als generativem Prinzip von hilfreichen Therapeut-Klient-Interaktionen können verschiedene Formen unterschieden werden. Grundformen der Empathie sind beispielsweise die Wiederholung des Mitgeteilten, die Empathie als Konkretisierung des Gesagten, die Empathie mit Bezug auf das Selbstkonzept des Klienten sowie die Empathie mit Bezug auf das organismische (haltungsprägende) Erleben des Klienten (J. Finke, 2004).

  • Kongruenz in seiner Haltung (Echtheit, Wahrhaftigkeit gegenüber dem Klienten): Offenes Wahrnehmen des eigenen Erlebens als Therapeut oder Berater, der mit dem Klienten in Beziehung steht. Dieses Offen-Sein schließt auch Echtheit in dem Sinn ein, dass Psychotherapeuten und Berater nicht nur als Fachpersonen in Erscheinung treten, sondern auch und besonders als Person sich dem Klienten in der Begegnung zu erkennen geben. Bei der Kongruenz als generativem Prinzip von hilfreichen Therapeut-Klient-Interaktionen können zum Beispiel verschiedene grundsätzliche Echtheitsformen des Therapeuten unterschieden werden. Echtheit im Sinne von Konfrontation mit dem Klienten, Echtheit im Sinne von Klärung des Beziehungsgehaltes mit dem Klienten und Echtheit/Kongruenz im Sinne einer Selbstmitteilung des Therapeutenerlebens gegenüber dem Klienten (J. Finke, 2004).

Die Wirkung von personzentrierter Psychotherapie und Beratung wurzelt in erster Linie in der Umsetzung dieser drei Grundhaltungen. Sie prägt die Beziehung zum Klienten, der sich dank dessen seiner eigenen Person zunehmend wertschätzend, empathisch und kongruent zuwenden kann (Persönlichkeitswachstum). Die jeweils konkrete personzentrierte Interaktion, welche von diesen Grundhaltungen geprägt ist, hat stets zum Ziel, die Inkongruenz der ratsuchenden Person zu reduzieren. Die konkrete Umsetzung dieser Haltungen ist jedes Mal auf den Klienten abzustimmen und ergibt zwangsläufig einen je eigenen, personzentrierten Prozess. Die Wirkung liegt nicht im theoretischen und diagnostischen Experten-Wissen über Klienten oder in der Anwendung therapeutischer Techniken.

Zusätzlich zu diesen sogenannten therapeutischen Grundhaltungen (im empirisch-positivistischen Jargon auch „Therapeutenvariablen“ genannt) stellte Rogers drei weitere Bedingungen für eine erfolgreiche Klienten-Therapeuten-Beziehung auf:

  • Es besteht ein psychologischer Kontakt zwischen Klient und Therapeut.

  • Eine der beiden Personen (der Klient) befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz.

  • Das therapeutische Angebot der Grundhaltungen (1–3) muss vom Klienten zumindest im Ansatz wahrgenommen werden können.

  • Wenn alle sechs Bedingungen erfüllt sind, ist psychotherapeutische Veränderung möglich.

Die gesamten sechs Bedingungen können als einer von mehreren schulenüberschreitenden Beiträgen von Rogers gelesen werden, die Psychotherapie wissenschaftlich zu definieren und auch variablenpsychologisch erforschbar zu machen. Zahllose empirisch-wissenschaftliche Studien seit den Anfängen der klientenz

entrierten Psychotherapie belegen im Übrigen die Richtigkeit seines theoretischen Psychotherapiemodells. Dennoch: Innerhalb der personzentrierten und experienziellen Gemeinschaft wird es bis heute kontrovers diskutiert, ob die sechs Bedingungen auch tatsächlich allgemein hinreichend für eine wirksame Psychotherapie sind. Deren Notwendigkeit wird hingegen von niemandem bestritten. Der Lackmustest für einen personzentrierten Psychotherapeuten lautet denn auch, ob er die sechs Bedingungen sowohl als notwendig wie auch hinreichend erachtet oder nur als notwendig, aber noch nicht hinreichend. Insbesondere diese Methoden und Konzepte wurden auch auf angrenzende Anwendungsgebiete wie Gruppentherapie, Kinder- (als Spieltherapie), Paartherapie und Familientherapie sowie in diverse psychosoziale und pädagogische Praxisfelder übertragen.


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